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Stadtkreis Freiburg - Freiburg

21. Dec 2016 - 12:30 Uhr

Insektensterben: Offener Brief an den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Herrn Winfried Kretschmann

O F F E N E R B R I E F
an den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Herrn Winfried Kretschmann sowie an die zuständigen Minister der Landesregierung
aus Anlass des drastischen Rückgangs unserer Insektenpopulationen


Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
sehr geehrter Herr Minister Hauk, sehr geehrter Herr Minister Untersteller,

wir haben mit Freude gehört, wie Sie, Herr Ministerpräsident, anlässlich des Parteitages der Grünen in Schwäbisch Gmünd am 19. November so engagierte und deutliche Worte zum Thema „Insektensterben“ gefunden haben. Dieses Problem war vor einigen Monaten in den Medien präsenter, mittlerweile ist es um das Thema wieder ziemlich still geworden. Es kann aber keinen Zweifel geben, dass das „Insektensterben“ von großer Tragweite ist, für die Landwirtschaft, für die Ökosysteme und die Biodiversität in unserem Land, und nicht zuletzt für uns alle, die sich einen Frühling ohne Schmetterlinge nicht vorstellen können.

Als mit der Tierwelt unserer Heimat vertraute Naturinteressierte und Fachentomologen registrieren auch wir seit einigen Jahren mit Sorge einen auffälligen Rückgang von Insekten und insektenfressenden Wirbeltieren in Südwestdeutschland. Wir nehmen daher die im Januar 2017 bei der EU-Kommission bevorstehende Prüfung der Wiederzulassung der drei Neonikotinoid-Insektizide Clothianidin, Imidacloprid und Thiamethoxam zum Anlass, uns mit der Bitte an Sie und an die zuständigen Minister zu wenden, sich im Rahmen Ihrer politischen Möglichkeiten gegen die Wiederzulassung dieser Stoffe einzusetzen. Aus Sicht zahlreicher kompetenter Wissenschaftler sind die zuvor genannten Insektizide ein wesentlicher Grund für den derzeitigen alarmierenden, ja beängstigenden Rückgang vieler Insektenarten.

Wie Sie wissen, wurde durch gründliche Untersuchungen und Beobachtungen in Deutschland und anderen Ländern festgestellt (1, 2), dass binnen weniger Jahre ein erheblicher Einbruch in den Populationen zahlreicher Insektenarten zu verzeichnen ist. Das betrifft Blüten besuchende wie auch andere Arten der verschiedensten Insektengruppen, am auffälligsten wohl die Honigbiene (3). Die Naturschutzverbände NABU und BUND rechnen mit Einbußen von bis zu 80 % der Biomasse an Insekten in den letzten Jahren (4). Als Hauptgrund für dieses “Verschwinden” wird jeweils der Einsatz von systemischen Insektiziden, namentlich der o. g. Stoffe vermutet. Diese Stoffe wirken auf das Nervensystem und somit auf den Orientierungssinn und das Verhalten von Insekten und anderen Gliedertieren. Darüber hinaus weisen diese Stoffe lange Halbwertszeiten auf - je nach Umweltbedingungen bis zu mehreren Jahren - wodurch sie im Boden wie auch im Grundwasser persistieren und wirksam bleiben (5).

Dem Rückgang der Artenvielfalt in unserer Landschaft liegt natürlich noch ein ganzes Bündel anderer Ursachen zugrunde (z.B. Landschaftsverbrauch, Monotonisierung und “Ausräumung” der Landschaft, Intensivierung der Land- und Forstwirtschaft, großflächiger Einsatz von Herbiziden, Stickstoffeinträge, Klimaveränderung und zunehmende Luft- und Lichtverschmutzung). Dieser Prozess verläuft bereits seit vielen Jahren und ist am deutlichsten am Verschwinden der Vögel der Agrarlandschaft sichtbar (z.B. Kiebitz, Rebhuhn, Feldlerche). Der 2012 abrupt und vielerorts beobachtete starke Rückgang bei nahezu allen bestäubenden und vielen anderen Insektenarten im Südwesten steht aber offensichtlich in direktem Zusammenhang mit der Aussaat von Neonikotinoid-gebeiztem Maissaatgut.

Von diesem massiven Rückgang der Insekten seit 2012 sind nicht allein die Honigbiene und auch nicht ausschließlich landwirtschaftliche Flächen betroffen, vielmehr sind seither auch in weniger intensiv genutzten Bereichen im Oberrheingebiet, namentlich auch im Kaiserstuhl, zahlreiche Insektenarten weitgehend ausgefallen. Viele bisher häufige Arten sind auf geringere Individuenzahlen reduziert, während die schon immer recht seltenen Besonderheiten der hiesigen Insektenfauna seit 2012 kaum noch auffindbar sind; für einen Teil dieser Arten trägt das Land Baden-Württemberg eine besondere Verantwortung (z. B. 6, 7).

Obwohl der Einsatz von drei Neonikotinoid-Wirkstoffen seit 2013 einstweilig verboten wurde, hat sich die bedrohliche Situation wegen der Langlebigkeit und des Vordringens der Neonikotinoide über Luft und Wasser in weitere Biotopbereiche sogar noch zugespitzt. Damit einhergehend wird außerdem ein nicht minder drastischer und Besorgnis erregender Rückgang an insektenfressenden Wirbeltieren, insbesondere an bestimmten Vogelarten, wissenschaftlich nachgewiesen und von vielen Menschen beobachtet (8).

Das Insektensterben findet dennoch von breiten Kreisen der Bevölkerung unbemerkt statt. Vielleicht fällt es Autofahrern mit gutem Gedächtnis auf, wenn nach längerer Autobahnfahrt die Windschutzscheibe – im Gegensatz zu früheren Jahren – fast insektenfrei ist. Für aufmerksame Naturbeobachter wird dies auch am Ausbleiben des früheren Gewimmels und Gesummes von vielen Insekten auf blühenden Sträuchern im Frühjahr offensichtlich. Nicht zuletzt fällt den mit der Kartierung von Insektenarten beauftragten Fachleuten an der Leere ihrer Netze, Klopfschirme und Fallen die Veränderung auf. Die bemerkenswert große Artenvielfalt und Insektenfülle, die wir am südlichen Oberrhein noch vor 15 Jahren dokumentiert haben (9) - u. a. über 2.100 Käferarten - ist augenscheinlich seither stark zurückgegangen.

Als mittel- bis langfristige Folgen bei einem weitgehenden Ausfall der Blütenbestäuber würden sich für die Landwirtschaft enorme Einbußen ergeben, da in Europa etwa 80 % der Ernte von Bestäubern abhängig sind (10). Darüber hinaus kommt es in der gesamten naturnahen Umwelt zu weiteren schweren Beeinträchtigungen des ohnehin gestörten Gleichgewichts.

Die Insektenwelt ist schon jetzt so weitgehend dezimiert, dass es wahrscheinlich Jahre, wenn nicht Jahrzehnte brauchen wird, bis ihre Vielfalt wieder einigermaßen hergestellt ist. Wir appellieren deshalb an Sie, Herr Ministerpräsident, Herr Minister Untersteller und Herr Minister Hauk, die folgenden Vorschläge und Forderungen zu unterstützen und im Rahmen Ihrer Möglichkeiten und Zuständigkeiten umzusetzen:

Ein vollständiges und dauerhaftes Verbot der Neonikotinoide in der Europäischen Union noch vor Beginn der Vegetationszeit 2017 als eine der am raschesten realisierbaren Maßnahmen, z.B. über die Forderung und Unterstützung einer Bundesratsinitiative.

Die Realisierung und Erweiterung eines breit angelegten Programmes, entsprechend der ambitionierten Zielsetzung des Ministeriums für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz der Vorgängerregierung (11, 12), als Maßnahme gegen das Verschwinden der Insekten, nämlich die umgehende Veranlassung und großzügige Finanzierung von nachhaltigen Maßnahmen zur Förderung der Biodiversität wie z.B. die Renaturierung von Ackerrändern (“Ackerrandstreifen”), die konsequente Umsetzung der gesetzlich vorgeschriebenen Gewässerrandstreifen, die möglichst großflächige Neuausweisung bzw. Vergrößerung von Schutzgebieten nach Naturschutz- und Landeswaldgesetz sowie die Förderung des Arten-, Biotop- und Landschaftsschutzes wie auch der Biologischen Landwirtschaft auf allen Ebenen der Planung, der Verwaltung und der Umsetzung vor Ort.

Die alsbaldige Einführung eines landes- und bundesweiten Langzeit-Monitorings wichtiger Zeigergruppen von Insekten und Insektenfressern. Zu fordern sind auch systematische Rückstandsuntersuchungen auf Neonikotinoide in Böden, Gewässern, Pflanzen und Insekten.

Unterstützung der Einrichtung eines unabhängigen Forschungszentrums mit der Aufgabe, alle Ursachen für den aktuell zu beobachtenden Rückgang der Insektenpopulationen zu ergründen und Schutzkonzepte zu entwickeln. Dazu gehört auch die Erfassung und Auswertung von entsprechenden Untersuchungen, Beobachtungen und Konsequenzen im In- und Ausland.

Die längerfristige Förderung von Öffentlichkeitsarbeit zur Stärkung des allgemeinen Problembewusstseins über die weitreichenden Konsequenzen des Insektensterbens.


Noch ist es nicht zu spät, die Artenvielfalt unserer Insektenwelt und damit die Vielfalt und das Gleichgewicht der naturnahen Umwelt in Deutschland und Europa zu stabilisieren - doch allerhöchste Zeit, wenn es demnächst zur Abstimmung über eine mögliche Wiederzulassung der hochproblematischen Neonikotinoide kommt. Eine falsche Entscheidung hierbei könnte verheerende Folgen haben und wäre unvereinbar mit allen Vorstellungen von Nachhaltigkeit und umweltgerechter Landwirtschaft.

Das Verschwinden der Insekten und damit eines Teils unserer Lebensqualität wird von vielen Menschen mit Sorge gesehen. Daher erwarten die Bürger von der Landesregierung, dass dieses Thema mit der notwendigen Ernsthaftigkeit behandelt wird. Ergreifen Sie im Rahmen Ihrer Möglichkeiten und Zuständigkeiten Maßnahmen, die diese dramatische Verarmung unserer Natur in Baden-Württemberg und darüber hinaus aufhalten und baldmöglichst umkehren.

Dazu gehört aktuell ganz besonders, mit allen Ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln die Wiederzulassung der gefährlichen Neonikotinoide zu verhindern.

Wir sehen Ihren Antworten mit Interesse entgegen und bedanken uns im Voraus für Ihre Unterstützung.


Mit freundlichen Grüßen,
Freiburger Entomologischer Arbeitskreis


Der Brief wird von folgenden Verbänden und Organisationen mitgetragen:

Arbeitsgemeinschaft Feldherpetologie und Artenschutz Baden-Württemberg e.V.
Arbeitsgemeinschaft Fledermausschutz Baden-Württemberg e.V.
Badischer Landesverein für Naturkunde und Naturschutz
Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), Landesverband
BUND-Regionalverband Südlicher Oberrhein
Fachschaft für Ornithologie Südlicher Oberrhein
Landesnaturschutzverband Baden-Württemberg (LNV)
Naturfreunde Baden-Württemberg
Naturfreunde, Ortsgruppe Freiburg
Naturschutzbund Deutschland (NABU), Landesverband Baden-Württemberg
Schutzgemeinschaft Deutscher Wald, Kreisverband Freiburg
Schutzgemeinschaft Libellen in Baden-Württemberg e.V.


Dieser Offene Brief wurde initiiert und formuliert
vom Freiburger Entomologischen Arbeitskreis (FREAK)

(Presseinfo: BUND-Regionalverband Südlicher Oberrhein, 21.12.2016)


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